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Abenteuer mal ganz anders
Die Bezeichnung, die bisher unübersetzt bleibt, ist missverständlich und hätte sicher besser gewählt werden können: „Adventure Travel“ ist nichts für halsbrecherische Abenteurer, die sich auf eigene Faust auf Schatzsuche begeben möchten oder von einem Survival-Erlebnis auf einer einsamen Insel oder im Dschungel träumen.
Der frische Trend ist eher das genaue Gegenteil davon und dem Slow Tourism zuzuordnen. Für Menschen, die sich für fremde Sprachen und Länder interessieren, wird er sich aber ohne Zweifel zu einer wichtigen und zeitgemäßeren Alternative zu den üblichen Kulturreisen entwickeln, zudem er andere demographische Schichten anspricht.
Die Vertreter der Adventure Travel Angebote trafen sich 2023 in Hokkaido zu einem ersten World Summit, was zeigt, wie neu dieser Ansatz ist.
Adventure Travel: was und für wen?
Adventure Travel ist zunächst eine Mischform aus Aktivurlaub, Natururlaub und interkultureller Entdeckungsreise. Die Reisenden, die in kleinen Gruppen von 5 bis 8 Personen von einem oder mehreren Führern angeleitet werden, sollten über eine gute körperliche Mobilität und eine gewisse Mindestfitness verfügen, denn Wanderungen, mitunter durch etwas anspruchsvolleres Gelände oder abgelegenere Regionen, sind ein wichtiger Bestandteil des Erlebnisses. Rein aktiv ist diese Form des Urlaubs aber nicht. Es geht weder darum, jeden Tag eine gewisse Strecke zurückzulegen, noch seine Leistungen zu steigern oder gar Extremsport zu betreiben. Die Gruppen werden von meist jüngeren Einheimischen aus der jeweiligen Region begleitet, deren Anliegen es ist, Ortsfremden die Einzigartigkeit von Flora, Fauna, Geologie, aber auch Alltagsgeschichte und -kultur, Traditionen, Bräuche, Sprachen und regionalen Besonderheiten zu vermitteln: nicht passiv durch lange Vorträge und auswendig gelernte Texte etwa, sondern durch eigenes, bewusstes und reflektiertes Erleben, durch das Teilen ihrer Leidenschaft für ihre Heimat und ihrer eigenen Erfahrungen.
Nicht nur das Bekannte entdecken
Die Idee stammt aus Japan, aber sie ist auf alle Kontinente übertragbar und Aufmerksamkeit und Nachahmer hat sie mittlerweile weltweit generiert – sowohl auf der Seite der Veranstalter als auch der Touristen.
Sie beruht auf der Erkenntnis, dass zum einen traditionell touristische Regionen vielerorts nur einen sehr geringen Teil der Gesamtfläche eines Landes darstellen, des Weiteren Tourismus gerade für vernachlässigte oder aussterbende Gegenden und Orte mit wenig Infrastruktur künftig zu einem unerlässlichen Wirtschafts- und Überlebensfaktor werden könnte. Tatsächlich ist Adventure Travel gerade für die Regionen interessant und relevant, die nicht „typisch touristisch“ sind und sich für die üblichen Tourismus-Angebote „eigentlich“ nicht eignen. „Eigentlich“ ist hier das Zauberwort, denn – so das Prinzip – jede Region hat ihren eigenen Charme, ihre eigenen Geschichten und Traditionen, ihren eigenen und wertvollen Charakter.
Immersives Reisen: ein ganzheitliches Erlebnis
Adventure Travel ruht auf zwei Pfeilern: der Leidenschaft der jungen örtlichen Bevölkerung und deren Wunsch, ihre Liebe zur Region oder Gemeinde mit viel Einsatz zu erklären und weiterzugeben, und der Interaktion der Touristen mit den Einheimischen und ihrem ganz normalen, unspektakulären, gelebten Alltag. Der Gedanke ist, dass bloße „Touren“ mit einem professionellen Guide nicht dazu führen, dass die Besucher wirklich etwas Authentisches mit nach Hause nehmen: Die Erinnerungen sind nach solchen Reisen flüchtig, werden schnell austauschbar, weil es ihnen an Tiefe und persönlicher Bedeutung fehlt.
Das Ziel von Adventure Travel ist es, die Besonderheiten im echten Leben besser erlebbar und erfahrbar zu machen, indem nicht nur erklärt und beobachtet, sondern aktiv miterlebt, ja mehr noch mitgelebt wird. Der Tourist wird in eine Welt getaucht, die ihm völlig fremd ist, er wird von seinem bisherigen Erlebnisuniversum, von allem Vertrauten getrennt, in eine fremde Welt katapultiert, von der er nichts weiß und nichts versteht, und er muss willens sein, sich Stück für Stück, behutsam, respektvoll und offen auf all ihre zuweilen verwirrenden, überwältigend andersartigen Facetten einzulassen. Darin liegt das „Abenteuer“ im Begriff „Adventure Travel“: sich vorurteilslos zu öffnen, fallen zu lassen, und Unbekanntes zu akzeptieren.
Die Erkundung von Wald und Feldern, das Wohnen und Essen inmitten von berufstätigen Familien und nicht im Hotel oder im Glamcamp, aber auch die aktive Teilnahme an alteingesessenen Beschäftigungen der Region wie traditionellen Festen, Musikfestivals, Ritualen, Laientheater-Aufführungen oder die Mitarbeit in handwerklichen Betrieben oder der ortstypischen Landwirtschaft gehören zu diesen Angeboten, in die Kultur, Geschichte, Kochkunst, Geographie und Bräuche mit eingebaut werden.
Die Entdeckung der Landschaft, des Klimas, der Lebensart und gegebenenfalls der Sprache gehen hier Hand in Hand. „Adventure Travel“ ist sozusagen eine Steigerung des Modells der Alberghi diffusi, denn hier wird der Entdecker nicht sich selbst überlassen, sondern konsequent didaktisch geführt.
Eine Win-Win-Win-Win-Situation
Der Nutzen dieser zwar noch jungen, aber jetzt schon beliebten Initiativen hat deshalb viel Aufmerksamkeit erregt, weil sie einen vierfachen Vorteil mit sich bringen. Wirtschaftlich betrachtet stellt Adventure Travel für Regionen und Gemeinden mit wenig Infrastruktur und demographischen Problemen eine goldene Perspektive dar: In Japan etwa kehren junge Einheimische so in alternde und aussterbende Orte zurück und hauchen ihnen mit ihren Familien und ihren Projekten neues Leben ein. Für viele Dörfer und Gegenden könnte dies der erhoffte Wendepunkt sein. Und mit jeder neuen Idee sind auch weitere Arbeitsplätze verbunden – etwa für die Erstellung und Pflege einer Website, Marketingarbeit oder die Beziehungen zu Veranstaltern, Gemeindeverwaltungen und Buchungsprovidern. Die regionale Wirtschaft wird neu belebt, Ärzte werden motiviert, sich wieder anzusiedeln, Handwerker sehen wieder einen Sinn darin, ihre Tätigkeit doch weiterzuführen, junge Generationen übernehmen die elterlichen Betriebe, die sonst verschwinden würden.
Auch die lokalen Strukturen profitieren von Adventure Travel, und zwar in zweifacher Hinsicht: Da gerade die Unberührtheit und Authentizität der Region Thema der Touren sind und die Aufnahme der Reisenden durch die einheimische Bevölkerung Kernpunkt des Konzepts ist, ist für diese Art des Tourismus‘ keine zusätzliche Infrastruktur nötig, die Investitionen und Kosten verursachen würde.
Finanziell kommt den Gemeinden noch die Tatsache zu Hilfe, dass in der breiten Bevölkerung eine neue Motivation entsteht. Die positiven und interessierten Reaktionen der Touristen führen Jung und Alt vor, dass das, was sie für selbstverständlich und unscheinbar, ja unwichtig hielten, mit anderen Augen betrachtet einen hohen emotionalen Wert haben kann, wenn man nur einmal wirklich darauf achtet. So manch erkaltete Liebe erwacht wieder zum Leben, und Freiwillige sehen eine sinnhafte Aufgabe darin, sich aktiv und kostenlos an Aufräumarbeiten und Pflege der Umgebung und an weiteren Ideen und Ansätzen zu beteiligen.
Ökologisch ist Adventure Travel der Inbegriff des nachhaltigen Tourismus‘. Die kleinen Gruppen lernen von ihren Guides den Respekt für die Umgebung, die sie betreten, übernehmen durch die immersive Situation auch die jahrhundertealten Praktiken der Menschen, die Wert darauf legen, dass die Umwelt, in der und vor allem von der sie leben, die sie ernährt und beherbergt, nicht zerstört oder geschädigt wird, sondern intakt und gesund erhalten bleibt. Die Touristen verlassen den Ort mit einem anderen Bewusstsein für Wälder, Pflanzen, Fischerei, Landwirtschaft, Biodiversität, Recycling und Ernährung und tragen diese Einsichten und Erkenntnisse aufgrund der Intensität des Erlebens in sich mit nach Hause. Es werden zudem keine neuen Straßen, keine Hotels gebaut, die Natur bleibt also erhalten.
Überraschenderweise profitiert eine weitere Branche von diesem innovativen touristischen Angebot. Die Notwendigkeit, multilinguale Informationen zur Verfügung zu stellen, führt für örtliche Übersetzungsbüros und regionskundige Muttersprachler zu neuen Aufträgen. Mehrsprachige Begegnungen mit Einheimischen machen auch den Besuchern den Wert von Sprache und Verständigung sowie den Unterschied zwischen echter Sprachvermittlung und App-Übersetzungen greifbar.
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Inzwischen ist aus dem, was einzelne Begeisterte sich ausgedacht haben, eine richtige Branche geworden. Im Oktober 2024 werden sich die Mitglieder der Adventure Travel Trade Association in Panama zu einem weiteren World Summit treffen. Der Erfolg, den Japan mit seinen Beispielen vorgelegt hat, kann nun auf andere Weltregionen übertragen werden. Eine Gefahr wird dabei konkret diskutiert: Adventure Travel kann nur dann sinnstiftend und erfolgreich sein, wenn das organische Leben der jeweiligen Orte sanft gefördert und nicht kompromittiert wird und diese nicht Gefahr laufen, zu Heimatmuseen zu verkommen.