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AutorenbildMartina Schmid

Apéritif – vom Drink zur Geselligkeitskultur





Schon das Wort bringt zum Träumen … In unserer Vorstellung verbinden wir es mit einem wohlverdienten und entspannten Feierabend, mit einem von Leichtigkeit und Lebensfreude, aber auch von feiner und exquisiter Lebensart geprägten Genuss unter Freunden. Es klingt nach der exzellenten Ess- und Gastlichkeitskultur Frankreichs. Und tatsächlich ist der „Apéritif“ – der im Deutschen ohne Akzent geschrieben wird – bei unseren Nachbarn eine lang tradierte und heute noch unverändert lebendige und gelebte Gewohnheit, die im Alltag und im gesellschaftlichen Gefüge einen unverzichtbaren Platz einnimmt.



Die weltweite Tradition des Frühabend-Drinks

Spätestens die großen amerikanischen Fernsehserien aus den 80er-Jahren haben es uns beigebracht: Wenn der Öl-Magnat oder der smarte Anwalt am frühen Abend nach Hause kommt, wird zuallererst Whisky getrunken – je nach Stress- und Gemütslage pur, auf Eis, mit Soda. Dies geschieht oft im Stehen an der Hausbar, noch bevor die Krawatte gelockert wird. Die vom Shopping erschöpfte Ehefrau ihrerseits widmet sich beim Abstreifen von Schuhen und Ohrringen oder bei einem ausgiebigen Bad gern einem Martini, einem Manhattan (in den 90er-Jahren wird es für sie ein Cosmopolitan sein). In Deutschland wiederum ist das Feierabend-Bier gesellschaftsschichtübergreifend ein fester Begriff.


Apéritif – nur die französische Version des Frühabend-Drinks?

Während der Frühabend-Drink anderswo zur individuellen Entspannung einlädt, wird der Apéritif weder im Stehen, noch beim Ausziehen kurz vor der Dusche, noch einsam getrunken. Er ist immer ein Moment des kultivierten Zusammenseins – manchmal mit dem Ehepartner oder der Familie, wesentlich häufiger allerdings mit Freunden, Kollegen, Nachbarn oder Geschäftspartnern. Er ist keine gedankenlos praktizierte Selbstverständlichkeit, sondern im Gegenteil eine Art, besondere Augenblicke bewusst zu kreieren und intensiv zu genießen. Hierzu gehört, sich gepflegt hinzusetzen, innezuhalten, sich angenehm zu unterhalten, was auf einer schönen Terrasse, im heimischen Wohnzimmer oder in einer eleganten Lounge geschehen kann.







Das Mittagessen nicht vergessen!

Der Apéritif ist andererseits nicht nur eine Belohnung am Ende eines anstrengenden Tages, er kann auch Präludium sein: Zu einem Geschäftsessen, einem Bankett und bei allen privaten Anlässen, bei denen sich die Verwandtschaft im wörtlichsten Sinn um einen Tisch versammelt, ist er Einleitung zum gemeinsamen Schlemmen und wird hier seiner Etymologie gerecht: Schließlich geht es rein theoretisch darum, den Magen für das zu erwartende Mahl zu öffnen und den Appetit anzuregen.


Apéritif als sozialer Code

Das französische gesellschaftliche Leben ist komplex und für Ausländer zuweilen schwer zu durchschauen. Etikette, Lebensart und ganz allgemein Formalien spielen eine zentrale Rolle, und es ist für Austauschschüler und erfahrene Geschäftsreisende gleichermaßen einfach, einen unverzeihlichen Fauxpas zu begehen. Inmitten all dieser Codes ist der Apéritif eher leicht zu deuten und birgt eine Fülle von Informationen. Es geschieht häufig, dass eine Einladung zum Apéritif ausgesprochen wird. Hiermit ist immer der frühe Abend gemeint, nicht die Zeit vor dem Mittagessen, und die Botschaft ist vielfältig: Sie ist eine Möglichkeit, das eigene Heim auf vorsichtige und vorerst eher reservierte Weise zu öffnen, eine berufliche oder nachbarschaftliche Beziehung zu vertiefen, jemanden besser kennenzulernen (mitunter regelrecht zu testen, wenn es sich etwa um einen künftigen Mitarbeiter oder Geschäftspartner handelt), oder schlicht ohne großen Aufwand und unverbindlich einer gesellschaftlichen Pflicht nachzukommen.

Apéritif ist Tradition und Modernität

Ganz gleich in welchem Kontext der Apéritif in den eigenen vier Wänden veranstaltet oder eingenommen wird, ist die Bandbreite der angebotenen Getränke auf einige wenige Klassiker begrenzt: Portwein, Sherry, Vin d’orange, im Sommer und vornehmlich im Süden Pastis kommen in Frage, wobei der Begriff „angeboten“ nicht immer zutrifft: In den meisten Fällen bestimmt der Gastgeber, was einheitlich allen Gästen als Apéritif serviert wird, wobei auch im Land der guten Weine Wasser als Alternative bereitsteht. Hier zeigt sich nebenbei bemerkt die Modernität der französischen Gesellschaft: Frankreich kennt keine „Männerdrinks“ und „Frauen-Cocktails“, sondern hat beim Apéritif längst die Gleichberechtigung vollzogen.


Eine ganze Industrie lebt vom Apéritif

Wer zu einem Apéritif eingeladen wird, sollte neben Blumen oder einem kleinen Geschenk Hunger mitbringen, denn der Couchtisch ist reichlich gedeckt. Auch er sollte allerdings als Code gelesen werden. Liegen in kleinen Schalen nur Nussmischungen und preiswertes Salzgebäck bereit, ist dies für den Gast eine klare Botschaft: Dies ist eine lästige Pflichteinladung und es wird erwartet, dass er nicht allzu lange bleibt. Üblicherweise aber entfaltet der Gastgeber bei einem solchen Anlass die ganze Bandbreite seines Könnens. Es gilt, den Gast zu verwöhnen, zugleich durch Originalität zu beeindrucken und eine gewisse soziale und finanzielle Stellung gebührend zu unterstreichen: edles Salzgebäck aus einem erlesenen Feinkostladen, das in Frankreich übrigens mit großer Selbstverständlichkeit in tausenden von originellen Versionen zu erwerben ist, Canapés mit Kaviar, Lachs oder selbstgemachter Auberginen-Creme, Foie gras, Mini-Quiche, Zucchiniblüten, überbackene Ziegenkäsetaler, gefüllte Weinblätter, Pasteten aller Art, in Gläser kunstvoll geschichtete Terrinen und Dips, deftige Windbeutel bilden nur die Mindestanforderung und Grundausstattung. Immer neue kleine Gerichte für den Apéritif werden erfunden, und es gibt sogar eine umfangreiche Apéritif-Literatur. Sind in deutschen Supermärkten neben Kartoffelchips und Erdnussflips nur wenige Sorten Salzgebäck und Aufstriche zu kaufen, sind es in Frankreich mehrere Dutzende. Zudem wird mit der Zubereitung besonderer und immer ausgefallenerer Canapés und Kleinspeisen oft der „Traiteur“ beauftragt – die französische Version des Caterings – selbst dann, wenn die Anzahl der Gäste und die erforderlichen Mengen extrem überschaubar sind. Auch Tiefkühlkost-Unternehmen bieten eine breite Auswahl an Produkten, die eigens für den Apéritif entwickelt werden.



Ricard Flasche und Glas

Der Apéritif ist in Frankreich weit mehr als nur ein „Drink“ und balanciert gekonnt zwischen all den Facetten, die Frankreich ausmachen und sonst vermutlich nirgends auf der Welt zu finden sind. Es geht beim Apéritif um das Versöhnen scheinbar widersprüchlicher Dinge: Es geht um die Liebe zu Formalien und die Achtung von traditionellen Werten, es geht um entspannte Geselligkeit und unbeschwerten Genuss, es geht um „Art de vivre“ und Lifestyle, es geht um Dialog und Zelebrieren, um ein Scharnier zwischen Arbeit und Privatheit. Es geht im Grunde um den Augenblick und die Ewigkeit – um das Leben, das Frankreich immer zu feiern weiß. Und das alles rundum ein einziges, kostbares kleines Glas.



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