die Übersetzung der Landschaft 盆栽
Miniaturgewächse – dies scheint die einfachste und griffigste Beschreibung des Begriffs „Bonsai“ zu sein, einer japanischen Pflanz- und Gestaltungsart, die zu Recht neben Ikebana als Kunst betrachtet wird. Tatsächlich aber ist dies nur ein Teilaspekt und gibt eine völlig unzureichende Vorstellung dessen wieder, was sich sowohl hinter dem Wort als auch hinter der Idee verbirgt.
Foto: @wix.com / Bonsai-Baum trimmen
Wie der Westen Bonsai annahm Mit der zunehmenden Öffnung Japans im 20. Jahrhundert und dem immer regeren wirtschaftlichen Austausch ab den 1970er und 1980er Jahren kamen westliche Länder mit vielen Elementen der japanischen Kultur in Berührung, die bald eine große Faszination ausübten. Kulinarisches wie Sushi, Zen-Ästhetik, Ikebana zählten ebenso dazu wie Bonsai. Die kleinen Bäume in den glänzenden Schalen wurden nunmehr in zahlreichen Fachgeschäften angeboten, bald auch in Gartencentern oder später sogar bei Discountern, und erlebten einen beeindruckenden Hype. Diese Mode sprach eine große Bandbreite von Interessenten an. Während einige – größtenteils männliche – Kunden darin ein Hobby entdeckten, das sich mitunter aus der Neugier speiste, unbedingt verstehen zu wollen, wie solche winzigen Züchtungen überhaupt möglich seien, und aus dem Ehrgeiz, selbst ein solches Meisterwerk zu erreichen, spielte bei anderen – vornehmlich bei jungen Frauen – sowohl der größenbedingte Niedlichkeitsfaktor als auch die zauberhafte und etwas rätselhafte Schönheit die entscheidende Rolle. Bonsai-Gewächse wurden aber auch, nicht zuletzt wegen ihrer Preise, ganz unreflektiert zum Statussymbol und Deko-Objekt und folgten somit einem Ansatz, der falscher nicht sein könnte. Ein unaufregender Begriff und eine unbefriedigende Übersetzung
Wenn es darum geht, zu verstehen, was Bonsai wirklich ist, führt die Übersetzung des Wortes allein zugegebenermaßen nur begrenzt weiter. Das „Anpflanzen (sai) in der Schale (bon)“ ist kein ausgesprochen aussagekräftiger Ausdruck und verrät nichts von der Weltanschauung, auf der diese jahrhundertealte Tradition beruht. Hier zeigt sich einmal mehr, wie wichtig ein gründliches Verständnis von Kulturmentalitäten ist, um Dinge zu erfassen, die als „fremd“ und „typisch“ empfunden werden. Die Schwierigkeit besteht im Wesen der japanischen Sprache: Begriffe von – oberflächlich betrachtet – bestechender Schlichtheit können ein vielfältiges Universum in sich einschließen, das für den westlichen Leser nur schwer zu erspüren ist. Die wörtliche Übersetzung täuscht meist und vermittelt ein nicht nur unvollständiges, sondern auch verfälschtes Bild der Vielschichtigkeit der Inhalte.
Worum es bei Bonsai wirklich geht: Naturliebe und Reflexion
Bonsai ist ein Kaleidoskop an Intentionen und Sichtweisen, wie es sie nur in Japan geben kann. Bonsai ist im Grunde ein philosophisches Landschaftsporträt. Es geht darum, die Natur respektvoll abzubilden, sich dadurch ihrer Schönheit bewusst zu werden und sie zu zeigen, sie zu schützen, zu studieren und zu verinnerlichen. Während aus dem Westen oft die Kritik oder zumindest die Frage zu hören ist, ob dieses Zähmen der Gewächse, dieses Einsperren auf kleinem Raum und das Zwängen in Formen und Größen nicht das Gegenteil von Natur und im Grunde gar eine Gewalttat sei, ist Bonsai für die japanische Seele eine verehrende Nachbildung, die dazu dient, in den Dimensionen eines winzigen und dadurch menschennahen, zugänglichen Kosmos die Natur zu achten, zu verstehen, zu erhalten und zu lieben. Ästhetische Eingriffe werden als Hervorhebung der natürlichen Vorgänge und Ereignisse, als Aufwertung betrachtet, als Zeichen der Hingabe und Fürsorge für die Pflanze, als Geschenk an sie, die dadurch noch schöner wird. Bonsai ist Reflexion im doppelten Sinn des Wortes: als meditative Betrachtung und philosophische und spirituelle Hinterfragung der Natur, als ihre Spiegelung durch ihre Rekonstruktion im Kleinen. Die Natur als Gesamtkunstwerk Die japanische Weltanschauung betrachtet Natur immer als Ganzes, als Perfektion und Beispiel. So wird auch bei Bonsai nichts dem Zufall überlassen und das kleine Gewächs steht immer in einer kontextuellen Landschaft, die mit Sorgfalt und Bedacht aufgebaut wird.
Deshalb ist das Substrat etwa nicht nur eine biologische Komponente: Selbstverständlich muss es eine ausreichende Bodenfeuchtigkeit und Drainage sicherstellen und die nötigen Nährstoffe für ein gesundes Wachstum bringen, zudem eine realistische geographische und geologische Lage darstellen – etwa einen Berghang, einen Küstenstreifen, eine Wiese, damit das Bild einer vollständigen und „echten“ Landschaft stimmig nachvollziehbar wird. Die Zeit als philosophische Größe Die Maxime, der Weg sei das Ziel, gilt bei Bonsai in besonderem Maße. Das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit, die Sicherheit, dass die so erschaffene Naturwelt ihren Gestalter überleben wird oder sogar vererbt werden kann und sollte, wie die Natur im Großen das Menschenleben selbst überdauert, ist Teil der Bonsai-Erfahrung – und nicht der unwesentlichste. Die vielen Stunden und die filigranen und präzisen, wohlerwogenen Arbeiten, die für die Planung und Pflege der kleinen Landschaften notwendig sind, gehören ebenso dazu und verstehen sich als Bekundung von Respekt und als Element der Meditation. Diese Weisheit erklärt schließlich, warum das Tokonoma der bevorzugte Aufstellungsort dieser Miniaturkunstwerke ist: Bonsai ist Einkehr und Nachdenklichkeit.
Foto: @unsplasch.com / Martin Baron
Unzählige Varianten – so vielfältig wie die Natur selbst Die Anzahl der Gewächse, die für Bonsai ausgewählt werden und Wald- und Obstbäume, Büsche, Ziersträucher, Moose oder sogar Nutzpflanzen wie Getreide einschließen können, ist so endlos wie die Formen und Attribute, mit denen sie in Szene gesetzt werden. Alle Situationen, die in der Natur vorkommen können, werden imitiert: gerader Wuchs, von Sturm und Alter verformte Äste, vom Frost entrindete Stämme – Bonsai ist eine Kunst des Lebens mit allen Widrigkeiten und aller Schönheit, die dieses impliziert. Bonsai ist Lebensart und Art, zu leben. Missverständnisse rund um Bonsai Bonsai-Gestaltungen sind nicht nur als Miniatur zu bewundern. Große Bäume als Vorgartenbepflanzung – ob in glasierten Kübeln oder in eingemauerten und nur bedingt sichtbaren Gefäßen sind eine weitere Spielart des Konzepts, die immer mehr gefördert wird. Ebenso darf nicht vergessen werden, dass Bonsai nicht der Anfang dieser Art von Ansätzen war, sondern vielmehr als deren Ergebnis und Vervollkommnung zu betrachten ist: Ursprünglich stammt diese Miniatur-Gartenkunst mit Namen pénzāi aus China und wurde lediglich in Japan zu dieser Meisterschaft weiterentwickelt. In Vietnam ist sie als hòn non bộ bekannt, wird aber wenig praktiziert. Der japanischen Seele allerdings kommt sie in jeder Hinsicht entgegen. Bonsai heute: eine Tradition mit Altersproblem Wie viele Dinge, die aus der Ferne als für einen bestimmten Kulturkreis typisch gelten, ist die Tradition des Bonsai nicht mehr so lebendig, wie sie es einst war. Jüngere Generationen zeigen weniger Begeisterung dafür: Neben einem hektischeren Berufsalltag mit vielen Verpflichtungen und Zwängen ist die übersichtliche Fläche von großstädtischen Apartments ohne Tokonoma und mit wenig Platz für die zahlreichen Utensilien, die Bonsai erfordert, einer der Faktoren. Die damit verbundenen Kosten sind ein weiterer. Mittlerweile gilt Bonsai als etwas verstaubtes Hobby für die ältere Generation. Diese ist zwar zahlreich, denn die japanische Bevölkerung altert aufgrund minimaler Geburtenraten mit demographisch erschreckender Geschwindigkeit, doch macht sich die Befürchtung laut, dass mit ihr auch eine jahrhundertealte Kunst schlicht endgültig aussterben könnte. Die Pandemie hat zwar das Interesse für Pflanzen und Bäume in den eigenen vier Wänden gestärkt, doch die allgemeine Entwicklung bleibt eher unerfreulich. Mit Workshops versuchen Bonsai-Gärtnereien, Bonsai wieder attraktiv und zeitgemäß zu vermitteln. Bonsai ist nicht nur ein optisches Vergnügen und die Faszination geht weit über den Reiz hinaus, der aus der Rezeption einer bis ins kleinste Detail perfekt nachgebildeten Landschaft entsteht. Die Schalengärten und -wälder sind nicht Modelle, wie man sie von Miniaturwelten-Themenparks kennt. Für den Gestalter und den Betrachter geht es gleichermaßen um die staunende und respektvolle Bewunderung der Natur, um den Wunsch nach Nähe und Authentizität, um die Reflexion über die Umwelt, in der wir leben, ihre Erscheinungsformen und Einflüsse, um den Drang, Schönheit und Leben zu huldigen, um Weltanschauung und Spiritualität. Wie schwer dies für westliche Menschen zu verstehen und nachzuvollziehen ist, wie schwer diese Sichtweise in unsere Begrifflichkeiten zu übersetzen ist, zeigt eindrucksvoll, wie typisch japanisch sie sind und bleiben.