Die Liebe der Briten zu ihren Parks und Gärten ist legendär, und der sogenannte „Englische Garten“ ist ein derart feststehender Begriff, dass er von München bis New York Nachahmer findet. Doch die weitläufigen und sehr eindrucksvollen Anlagen mit vielfältigem Baumbestand sind nur ein winziger Aspekt der britischen Gartenkunst, und wenn sie auch als städtisches Erholungsgebiet und „Grüne Lunge“ in vielen Metropolen einen wichtigen Platz innehaben, so sind sie nicht unbedingt die schönsten und reizvollsten.
Der Cottage Garden jedoch verzaubert den Beobachter auf subtilere und interessantere Weise.
Charmant, verwunschen und märchenhaft
Es ist nicht einmal nötig, einen Cottage Garden zu betreten, um seiner Magie zu verfallen. Schon aus einer relativen Ferne, bereits sogar in den Fotografien eines Bildbands ist das Besondere, das ihn umgibt, spürbar. Die Atmosphäre, die von diesem Fleckchen Erde oft sehr überschaubarer Größe ausgeht, ist einzigartig und unverwechselbar. Er gibt sich schlicht und elegant, fragil und beständig, überschwänglich und still, üppig und bescheiden, selbstverständlich und selbstbewusst zugleich. Gerade aus diesem Gleichgewicht zwischen scheinbaren Gegensätzen entsteht eine Idylle, die ihre Wirkung niemals verfehlt und im Laufe der Jahrhunderte nichts von ihrer Faszination eingebüßt hat.
Das Geheimnis des Cottage Gardens – Struktur und Anlage
Strenge Beete und Abgrenzungen wie in französischen oder Klostergärten, einen Rasen mit messerscharf gezogener Kante wie im deutschsprachigen Raum sucht man im Cottage Garden vergeblich. Strukturen sind zwar ein zentrales Prinzip eines solchen Gartens, aber sie werden anders geschaffen: nicht durch perfekte Linien und akkurat frei gelassene Flächen, sondern durch den gezielten Einsatz von Töpfen oder Skulpturen, Zäunen oder praktisch genutzten Gegenständen wie alten Tischchen und kleinen Sitzmöbeln, aber vor allem durch die Staffelung von Gewächsen unterschiedlicher Höhe.
Farbharmonien
Die Farbpalette des Cottage Gardens ist zart und vornehm, romantisch und dezent. Weiß, zahlreiche Nuancen von Rosa und Blau bis hin zu Lavendel- und Lilatönen, sowie abwechslungsreiche Grün-Schattierungen, die sich von Silbrig-Grau bis zu einem dunklen Smaragd erstrecken können, verleihen dem Garten seine unverkennbare Ausstrahlung, deren Wesen sich dem Verstand und dem Wort entzieht. Kräftiges Rot oder leuchtendes Gelb, die den Bauerngarten auszeichnen, wären hier eher fehl am Platz – einzige Ausnahme dürfen lediglich im Sommer hie und da die kurzlebigen Mohnblüten bilden.
Pflanzenwahl
Einheimische und mehrjährige Pflanzen sind ein Muss, und so ist der Cottage Garden ein stets nachhaltiger und insektenfreundlicher Kosmos. Rosen – vorzugsweise, wenn der Platz es zulässt, Rambler-Rosen und alte Sorten, zuweilen auch in Verbindung mit Flieder, Sommerflieder, Blauregen und Clematis – und hohe Stauden wie Jakobsleiter, Rittersporn, Stauden-Pfingstrosen oder Stockrosen sind die Pfeiler des Gartens, um die sich Phloxe, Lavendel, Mond- und Nachtviolen, Schleierkraut, Salbei, Glocken- und Flockenblumen, Gras- und Lichtnelken, Löwenmäulchen, Wicken, Katzenminze, Vergissmeinnicht, Zinnien, Dahlien, Lupinen, Akeleien und Astern in Tuffen und Horsten scharen. Ergänzend kommen einjährige Pflanzen wie Kornblumen, Kapuzinerkresse, Kräuter und Schmuckkörbchen sowie Hornveilchen hinzu.
Eine Schönheit, die niemals endet
Die Bepflanzung des Cottage Gardens ist so gewählt, dass die Blüte sich von den ersten Tulpen im Frühjahr bis zu den letzten Herbstanemonen erstreckt und sich stets der Eindruck einer endlosen Fülle ergibt. Aber auch danach wird der Garten niemals langweilig, kahl oder leer: Hagebutten, Samenkapseln etwa der Schwertlilien oder Mondviolen, die trockenen Zweige der verblühten Jakobsleiter werden nicht im späten Herbst abgeschnitten, sondern verbleiben als dekorative Erinnerung und Naturschutz an Ort und Stelle, bis neues Grün ersprießt. Das Spiel des Raureifs an ihren Rändern, die nassen Spinngewebe zwischen ihnen, die braune Palette von Laub und Stängeln verleihen ihnen neues Leben – und so bleibt der Garten durch den ganzen Winter hindurch spannend, ästhetisch und ökologisch wertvoll.
Ein Dialog zwischen Pflanzen und Gärtner
Ein Cottage Garden ist ein gelebtes Zeugnis von Liebe und Kommunikation und Ausdruck eines harmonischen Verhältnisses zwischen Natur und Mensch. Was wild anmutet, ist das Ergebnis einer sorgfältigen und respektvollen Planung. Die Arbeit teilen sich Pflanzen und Gärtner, und beide einigen sich auf einen beständigen und immer wieder aufs Neue verhandelten Kompromiss: Die Natur darf sich entfalten, sie wird aber behutsam gelenkt und unterstützt. Von diesem Aspekt aus betrachtet ist ein Cottage Garden gerade für Übersetzer das perfekte Umfeld – besteht ihre Arbeit doch darin, so viel vom Ausgangstext zu erhalten wie möglich, und so weit anpassend einzugreifen wie nötig. Dies macht den Cottage Garden sowohl pflegeleicht als auch im Sinne des Umweltschutzes unerreicht zeitgemäß.
Auch wenn nicht alle Stauden, die in England zu Hause sind, in anderen Ländern das passende Klima und die geeigneten Böden finden, lassen sich die Prinzipien des Cottage Gardens fast überall auf der Welt übertragen und vermitteln in den jeweiligen Regionen die unvergleichliche Liebe der Briten zur Natur und zu allen Facetten ihrer Schönheit. Gärtnereien bieten mittlerweile immer häufiger entsprechende Staudenmischungen an, die ein Stück vom Märchenzauber bis in das kleinste Vorgärtchen bringen können. Der Cottage Garden ist sozusagen also ein perfektes Beispiel für die gelungene Übersetzung einer landestypischen Einstellung in andere Formen- und Blumensprachen.
Wussten Sie …
… dass ein englisches Sprichwort lautet: „Wissen und Stauden vermehrt man, indem man sie teilt“?
… dass der Cottage Garden ursprünglich ein Gemüse- und Kräutergarten war, der zur Selbstversorgung diente, und erst Künstler und Wohlstandsbürger, die sich nach ländlicher Idylle sehnten, ihn in einen Ziergarten verwandelten?
… dass Touristen aus aller Welt jedes Jahr nach England reisen, um Cottage Gardens zu bewundern, und Gartenreisen einen erheblichen Anteil der britischen Tourismus-Industrie darstellen?
… dass in einem echten Cottage Garden bis auf im Winter die bloße Erde niemals zu sehen ist?