Essensästhetik in Japan
- Martina Schmid
- vor 5 Tagen
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Von der Weltanschauung zum Wirtschaftsfaktor

Japanisches Essen ist nicht nur die Summe seiner Zutaten. Seine Gestaltung stellt einen Mikrokosmos der japanischen Denkart dar.
Speisen und Gerichte ansprechend zu präsentieren ist in der gehobenen Gastronomie zu einer festen Größe geworden. Längst geht es nicht mehr nur darum, Restaurantkritikern und Kunden gleichermaßen Perfektion zu demonstrieren: „Koch-Kunst“ soll als solche wahrgenommen werden, und dies erfordert eine angemessene Inszenierung und entsprechende, optisch harmonische Konzepte. In Japan, wo Ästhetik im Allgemeinen eine wesentliche Rolle im kulturellen Selbstverständnis spielt und konsequent in den Alltag integriert wird, geht dieser Ansatz noch weit darüber hinaus.
Der Natur folgen
Zu den zentralen Prinzipien der japanischen Denkart – ob man sie nun als Aspekt des Shintoismus bzw. Zen-Buddhismus oder eher als rein tradierte Grundsätze betrachten will – gehört die stetige Suche nach Einklang mit der Natur in all ihren Facetten. Naturnähe findet ihren Ausdruck nicht nur in einer bewussteren Wahrnehmung der Jahreszeiten, denen eine eigene Persönlichkeit zugesprochen wird und die mit zahlreichen Festivals gefeiert werden, sondern auch in sehr lebendigen Bräuchen, wie zum Beispiel der mittlerweile weltberühmt gewordenen Hanami, der Betrachtung der Sakura. Sie wird auch etwa durch die strenge Einhaltung der in anderen Teilen der Welt oft vergessenen Praxis saisonaler Essensgewohnheiten gelebt. Diese gelten als gesundheitsfördernd, da sie schließlich eine abwechslungsreiche Ernährung ermöglichen, wie Mutter Natur sie vorgesehen hat.
Farben- und Formlehre auf dem Tisch
Doch genügt es nicht, der Natur zeitlich zu folgen und somit auf ihre Weisheit zu vertrauen. Es gilt auch, sie nachzuahmen, und dies ist in der Präsentation von Speisen in Japan von unvergleichlicher Bedeutung.In jedem Gericht sind deshalb idealerweise alle Grundfarben vertreten, die Flora, Fauna und Wetter symbolisieren: Gelb, Rot, Grün, Schwarz und Weiß bilden die Welt jenseits des Fensters ab. Diese Farben wiederum bekommen der Jahreszeit entsprechend eine unterschiedliche Gewichtung. Grünes Gemüse oder Kräuter in kleinen Mengen in Reis verteilt deuten im späten Winter die Schneeschmelze an, die erste grüne Sprossen und Keimlinge enthüllen wird. Im Frühjahr finden als Kirschblüte ausgestanzte Scheiben der Fischpastete Kamaboko mit ihrem typischen pastellrosafarbenen Rand in klare Brühen Einzug. Auch Desserts und Süßigkeiten passen sich farblich dem Wechselspiel von Licht und Wetter an. Die Auswahl der Zutaten und ihr Anteil an einem Rezept spiegeln die Veränderungen von Wald und Garten im Herbst wider: Rote Shiso-Blätter und eingelegte Ume-Pflaumen erinnern an das bald fallende Laub des japanischen Ahorns und mischen sich mit dem Grün von Edamame und Eigelb zu einem Gemälde des Koyo oder Momijigari. Orange und Rot sind an Neujahr überall vertreten, gelten sie doch als Glücksbringer. Die Liste ließe sich endlos fortführen. Auch das Anrichten folgt dem Streben, der Natur gerecht zu werden: hier in ihren insbesondere geologischen Strukturen, namentlich in der Abbildung der Berge, die als Quell des Wassers, der Vegetation, des Lebens überhaupt und somit als heilige Orte verehrt werden – allen voran natürlich der unumgängliche Fujiyama. Die einzelnen Bestandteile eines Gerichts sollten pyramidenartig zu einem kleinen Berg arrangiert werden. Dies ist nicht nur ansprechend, weil alle Elemente für den Gast sichtbar sind, es ist auch ein gutes Omen.
Die Wahl des richtigen Geschirrs
Japan ist nicht zufällig für seine Keramikkultur und seinen Sinn für Design bekannt. Ist andernorts das Interesse an ästhetischen Werten eher gebildeten oder wohlhabenderen sozialen Schichten vorbehalten, so besitzen auch bescheidene japanische Familien eine äußerst ansehnliche Zahl an Platten, Schüsseln und Tellern unterschiedlichster Art. Jeder Ausflug kann die Gelegenheit sein, neue Stücke zu erwerben, um so eine noch bessere Inszenierung der Speisen erreichen zu können.Eine Mahlzeit anzurichten ist selbst im Alltag im eigenen Zuhause eine aufwändige Suche nach Perfektion und letztlich das, was als künstlerisches Statement gesehen werden darf. Material, Farbe, Größe, Form, Haptik des Geschirrs müssen mit den servierten Gerichten harmonieren, ihnen einen optischen Rahmen verleihen, der ihrer würdig ist und sie zugleich hervorhebt, sie geschmacklich unterstützen und die Assoziation zwischen Jahreszeit, Nahrung, Anlass und gesellschaftlicher Situation in Form- und Farbensprache umsetzen. Die Wahl einer bestimmten Servierplatte ist eine Aussage: über die Person selbst, ihren Charakter, ihre Einstellung, aber auch über das Bild, das sie mit dem Gestalten des Gerichts zu vermitteln beabsichtigt.Restaurantbesitzer und Chefköche reisen mitunter Hunderte von Kilometern weit, um genau das Geschirr auszusuchen oder bei Keramikkünstlern in Auftrag zu geben, das zu ihrer geplanten Speisekarte passen wird. Es kommt vor, dass sie einen bestimmten Teller nur ein einziges Mal für ein bestimmtes Gericht verwenden und dieser dann jahrelang sein Dasein in einem Karton fristet, weil er schlicht zu keinem anderen Gericht passt als dem, für das er gekauft wurde. Deshalb gibt es inzwischen Börsen, in denen Gastronomen nicht benutzte Serviergefäße gegen andere tauschen können.
Bento-Boxen und die Pflicht zur Perfektion
Für Schüler und Berufstätige in Japan ist die Bento-Box eine Selbstverständlichkeit, selbst dann, wenn ein Kantinenangebot oder arbeitsplatznahe Imbissmöglichkeiten gegeben sind. Zum einen spielt der wirtschaftliche Faktor eine Rolle, denn Selbstgekochtes ist auch in Japan wesentlich günstiger und gesünder als „Convenience Food“.
Ein weiterer Aspekt ist aber – und dies gilt in besonderem Maße für Kinder und ihre Mütter – der gesellschaftliche Druck. Zu zeigen, dass man seinem Kind eine ausgewogene und ansprechende Lunchbox mitgibt, wird als Verpflichtung empfunden. Engagement und Perfektion bis zur Selbstaufopferung und Erschöpfung zu demonstrieren stellt nicht nur in der japanischen Arbeitswelt eine Bringschuld dar. Auch im Umgang mit der Familie und den häuslichen Pflichten wird eine Unfehlbarkeit erwartet, die die Bento-Box der Kinder widerspiegeln muss. Oft wird mit Skalpell und Pinzette gearbeitet.
Eine erfolgreich zusammengestellte Bento-Box ist nicht nur abwechslungsreich, gesund und vielseitig, sie hat auch der Farben- und Anrichtlehren zu folgen, die für eine servierte Mahlzeit gelten. Farblich abgestimmte Papierförmchen oder -blattdekorationen dienen als Trenner zwischen Gemüse, Fisch oder Fleisch, Omelett und Reis. Es gibt diesbezüglich kaum etwas, das es nicht zu kaufen gäbe, und eine ganze Industrie lebt davon.
Für Kinder kommt eine weitere und sehr wichtige Dimension hinzu: die Dekoration. Zu kleinen Oktopussen geschnitzte Würsten, mit Nori in Comic-Figuren verwandelte Eier, kleine Eselsfiguren aus Möhren oder Schneemänner aus Rettich sind keine Option, sondern ein Muss. Eine gelungene und regelrecht professionelle Gestaltung, Aufwand, Originalität und Witz entscheiden nicht nur über den Ruf der Mutter, sondern auch über die soziale Rezeption des Kindes im Klassenverband und in den Freizeitaktivitäten. Als „vernachlässigt“ oder einfallslos beurteilte Bento-Boxen können ein Kind unter Umständen zum Außenseiter machen, bringen es auf jeden Fall in Rechtfertigungszwang, was die Familienwerte betrifft.

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Ekiben – Proviant der anderen Art für die Bahnreise
Japaner lieben Züge und die Bahn ist fester Bestandteil ihres Lebens – ob es sich um Ausflüge mit den immer zahlreicheren berühmten sog. Touristenzügen, um das tägliche Pendeln mit Nahverkehrsangeboten oder um längere Reisen im prestigeträchtigen Shinkansen bzw. über die schier unendlich anmutende Anzahl regionaler Linien handelt.
Auf gutes Essen zu verzichten, weil man unterwegs ist, und auf Fastfood, einen Snack aus der Tüte oder ein Sandwich zurückzugreifen, entspräche nicht der japanischen Art. Selbst wenn es schnell gehen muss, muss nicht auf Stil und angemessene Ernährung verzichtet werden.
Touristische Angebote über mittellange Strecken sehen oft das Servieren aufwändig zubereiteter, luxuriös präsentierter und mit Sake begossener Mahlzeiten an Bord vor. Neben dem gewünschten Sättigungs- und Zufriedenheitsfaktor dienen diese nicht zuletzt dazu, die Spezialitäten, für die die Region entlang der Strecke berühmt ist oder sein sollte, bekanntzumachen und zu bewerben. Bestimmte Produzenten, Landwirte, Restaurants bekommen so die Gelegenheit, sich zu profilieren, was die örtliche Wirtschaft fördern und ihr Überleben oder ihre Neubelebung sichern soll – meistens übrigens mit beeindruckend und inspirierend großem Erfolg.
In allen anderen Fällen entscheiden sich die Reisenden für eine Abwandlung der Bento-Box: das Ekiben. Es handelt sich um eine mit einer vollständigen Mahlzeit zusammengestellte Box aus Karton oder Holz, oft mit durchsichtigem Deckel oder Folie verschlossen, was die Auswahl erleichtert, oder mit einem Holzdeckel, auf dem eine genaue Inhaltsliste zu finden ist. Tausende solcher Ekiben werden jeden Tag an Bahnhöfen oder teilweise sogar bei Zwischenhalten des Zuges vom Bahnsteig aus durch das Zugfenster verkauft. Sie sind für kleine Gemeinden und für die Eisenbahngesellschaften selbst nicht selten eine unentbehrliche Einnahme- und Werbequelle.
Auch Ekiben sind selbstverständlich kleine Kunstwerke, deren äußere und innere Designqualitäten während einer langen Zugfahrt und darüberhinaus ausgiebig kommentiert, beurteilt und verglichen werden.

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Wer nach Japan reist, sollte sich bemühen, die japanische Kochkultur nicht nur als Geschmackserlebnis zu betrachten, sondern sie als Teil der ästhetischen Maßstäbe einer sehr optisch orientierten und naturverbundenen Kultur hautnah zu erfahren. Jede Region hat hier zudem ihre eigenen Gestaltungskriterien und dies ist ein köstlicher Weg, um die japanische Weltanschauung in ihren wichtigsten Aspekten zu ergründen.