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AutorenbildMartina Schmid

Feigen – südliche Sinnlichkeit


Feigen


Feigen sind nicht einfach eine Obstsorte wie viele andere. Ob im Supermarkt oder im Delikatessengeschäft, auf einem Kalenderblatt oder in einem Kochbuch – der bloße Anblick einer Feige wirkt entspannend und belohnend, erweckt unzählige Assoziationen und sehr individuelle Gefühle und Sehnsüchte. Eine Feige ist immer etwas ganz Besonderes. Vielleicht weil wir instinktiv spüren, dass diese unverwechselbare Form und diese einzigartigen Farbschattierungen bereits seit Jahrtausenden und jenseits aller Konflikte und internationalen Unterschiede wichtiger Bestandteil der menschlichen Geschichte sind und diese Frucht somit unbestritten kultur-, sprachen- und sogar religionsübergreifend Teil unserer ideellen DNS wurde.




Alt, aber nicht immer ehrwürdig?

Der Feigenbaum stammt wie alle Maulbeergewächse, zu denen er gehört, ursprünglich aus Asien bzw. Kleinasen und zählt neben dem Olivenbaum zu den ältesten Kulturpflanzen überhaupt. Schnell breitete er sich bereits vor Jahrtausenden im ganzen Mittelmeerraum aus, wo er heute sowohl in wilder Form, als Zierstrauch, als Schattenspender in Lauben oder auch in kommerziell genutzten Plantagen zu finden ist. Weltweit sind über 700 Unterarten bekannt. Von diesen nüchternen Fakten abgesehen ist die Faszination, die er seit jeher auf die Menschen ausübt, nicht frei von Ambivalenz. In der römischen und griechischen Antike war die Feige Bacchus bzw. Dionysos gewidmet, dem Gott des Weins, des Überschwangs und der Ausschweifungen aller Art. In Pompeji sind Darstellungen von Feigen an Orten zu sehen, an denen Prostitution angeboten wurde, galten sie doch als Symbol von Fruchtbarkeit und Erotik. Der Frucht selbst wurde im ganzen Verbreitungsgebiet eine aphrodisische Wirkung nachgesagt. Bis ins 18. Jahrhundert wurde sie in adligen Kreisen nicht zuletzt deshalb als Hochzeitsgeschenk überreicht. Diese Verbindung ist auch in der jüdisch-christlichen Tradition belegt: Der Baum der Erkenntnis, von dem Adam unerlaubterweise nascht und mit dessen Blatt er dann beschämt seine Blöße bedeckt, soll ein Feigenbaum gewesen sein. So gilt der Feigenbaum hier als verflucht und bietet einen Gegenpart zum heiligen Olivenbaum. Das Feigenblatt blieb als Motiv in der Kunst, namentlich in der Skulptur, und in einigen Sprachen in Form von geflügelten Worten erhalten. Andere Sprachen wiederum haben die laszive Komponente der Frucht nicht vergessen: Im Wienerischen etwa ist sie durch Ausdrücke wie „mit der Feig'n hausieren“, was nichts anderes bedeutet als „sich prostituieren“, noch lebendig.





Kostbar, köstlich … und universell

Auch in unserer Zeit, in der Früchte aus südlicheren Gefilden bis in die Discounter-Supermärkte gelangen und zu oft zu einer Selbstverständlichkeit verkommen, bleiben Feigen eine Ausnahme. Noch immer umgibt sie der Hauch des Seltenen, des Außergewöhnlichen. Die Tatsache, dass die Kultivierung und insbesondere die Befruchtung der Pflanzen hohe Anforderungen an Klima, Bewässerung und Bodenqualität und -düngung stellen, die Empfindlichkeit der Früchte und die damit verbundene Handarbeit sowie der Verpackungsaufwand führen dazu, dass frische Feigen, die kommerziell hauptsächlich in der Türkei, in Marokko, Griechenland, Spanien, Portugal oder in kleineren Mengen in Italien angebaut werden, auch in der Hauptsaison von März bis September ein relativ teures Gut bleiben. Ihr Geschmack, der abhängig von Herkunft, Sorte und Reifegrad viele Nuancen bietet und sich erfrischend, aromatisch fruchtig, honigschwer oder aber nussigsüß geben kann, lässt keinen Zweifel darüber, dass mit jeder Feige ein einzigartiger Genussmoment verbunden ist. Feigen vereinen Einfachheit und Komplexität – und haben in dieser Hinsicht viel mit einer guten Übersetzung gemein –, grüne Leichtigkeit und dunkle Tiefe, Sanftheit und Charakter. Hierzu gesellt sich eine weitere Eigenschaft: Sie lässt sich hervorragend durch Trocknung konservieren und kann somit im Winter als Quelle wertvoller Nährstoffe dienen. Der Trocknungsprozess verdichtet den ohnehin hohen Gehalt an Vitamin C, Aminosäuren, Ballaststoffen und Kalium und macht sie zu einem empfehlenswerten Superfood. In Asien werden frische Feigen sogar als medizinisches Produkt betrachtet und in der Behandlung von Zahnfleischproblemen eingesetzt.


Kleines Körbchen mit getrockneten Feigen


Vielseitig und interkulturell

Zudem ist die Feige nicht nur ein Snack, sondern eine vielseitige Frucht, die in frischem, gekochtem, gebackenem oder getrocknetem Zustand gleichermaßen mit süßen oder herzhaften Gerichten gepaart werden kann. Sie schmeckt zu Weißwein, Rotwein, Likör und Whiskey, zu Käse und Fleisch, in Gebäck, kalt und warm. So harmonieren Feigenpaste und Gänseleberpastete ebenso gut wie frische Feigen und Schafskäse. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Interkulturalität einiger Feigenspezialitäten. In den USA wird seit Ende des 19. Jahrhunderts ein Kleingebäck verkauft, das sich bis heute einer ungebrochenen Beliebtheit erfreut. 1961 entwickelte eine französische Industriebäckerei ihre eigene Version, die für viele Generationen zur Standardausstattung einer jeden französischen Speisekammer gehörte, bis das Unternehmen 2015 beschloss, dass das Gebäck nicht mehr zeitgemäß sei, und es durch einen Feigenriegel ersetzte. Es hatte die Rechnung ohne den Verbraucher gemacht: Durch eine Petition wurde 2020 die Wiederaufnahme der Produktion erzwungen. In den Vereinigten Staaten herrscht in der breiten Bevölkerung die Meinung, dass das amerikanische Gebäck Vorbild und Ursprung aller Produkte dieser Art sei. Archäologische und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse jedoch widersprechen dem entschieden. Das Röllchen aus Mürbeteig mit Feigenpastenfüllung war bereits im Alten Ägypten bekannt und ist in vielen Teilen Nordafrikas und Vorderasiens ein traditionelles Gebäck des Fastenbrechens nach dem Ramadan.


Die Schönheit der Welt in einer Frucht

Mit ihrer einzigartigen Tropfenform, ihren sinnlichen Rundungen, den changierenden Schattierungen ihrer Schale, die sich von Veronesegrün bis Dunkelviolett mit Einschlüssen von Bernstein und Karmesin schmücken kann, ist die Feige auch optisch ein Genuss, und dies nicht erst seit Erfindung der Sozialen Netzwerke. Neben dem Feigenblatt in der Skulptur, das allerdings oft so genannt wird, auch wenn tatsächlich ein Weinblatt verwendet wird, spielt die Feigenfrucht in der Malerei von den Flämischen Meistern bis nach Italien eine beeindruckende Rolle. In unzähligen Gemälden von Paolo Antonio Barbieri, Felice Boselli, Georg Flegel, Angelo Maria Rossi, Osias Beert d. Ä. oder Johan Laurentz Jensen sind sie immer wieder zu finden. Luis Eugenio Melendez machte sie sogar zu einem zentralen Motiv vieler seiner Werke, selbst Gustave Caillebotte und Auguste Renoir integrierten sie in ihre Stillleben. Auch in neuerer Zeit sind sie wegen ihrer Schönheit fester Bestandteil unserer Bilderwelt. Zeitgenössische Künstler bilden sie nach wie vor immer wieder ab, Botanik- und Foodillustratoren werden nicht müde, sie in Aquarellen und Zeichnungen zu präsentieren, und Fotografen finden stets Freude daran, sie in Szene zu setzen.



Ein Glas mit Feigenmarmelade, runtherum halbierte Feigen


Feigen sind nicht nur eine köstliche Frucht mit einer langen und beispiellos harmonischen Geschichte. Sie spiegeln in der Vielfalt ihrer Formen, Farben und Unterarten die Diversität unserer Welt wider. Ihr Baum, der Kühle und Geborgenheit zu spenden vermag und mit zunehmendem Alter durch seine Größe, seinen surreal anmutenden knorrigen Stamm und seine ausladende, perfekt geformte Krone fasziniert und berührt, steht nicht nur verbindend und versöhnend für die Vergangenheit unserer Religionen: Er entführt uns in die frische Leichtigkeit und süße Sinnlichkeit des Südens, aber auch in die hoffnungsvolle Beständigkeit eines langlebigen Gewächses, dessen Früchte in allen Kulturen seit Jahrtausenden als kostbares Geschenk gefeiert werden.

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