Sprache lebt, dies war zu allen Zeiten so. Die Jugend erfindet neue Ausdrücke, die ihr jeweiliges Lebensgefühl widerspiegeln, die mitunter zum „Geheimcode“ einer ganzen Generation werden und mit deren Erwachsenwerden wieder verschwinden. Vertraute Bezeichnungen gleiten in das Dunkle und Vergessene alter Bibliotheken, weil es die entsprechenden Gegenstände oder Berufe schlichtweg nicht mehr gibt, und treten vom Reich des Lebens in das der Archive und Erinnerungen, der Nostalgie oder bestenfalls des Gelehrtentums. Neologismen helfen, neuen Wirklichkeiten und Technologien Ausdruck zu verleihen. Fremde Sprachen schenken uns neue Wörter – sei es, weil sie uns mit Einwanderern erreichen und in ihrer Integration Teil unseres Alltags werden, sei es, weil eine Sprache in der internationalen Kommunikation dominant wird – so war es im 17. Jahrhundert im deutschen Sprachraum das Französische, heute weltweit das Englische. Doch Sprache kann sich auch auf andere Weise verändern.
Grands Crus: ein fester Begriff für Liebhaber edler Weine
Das Prädikat „Grand Cru“ ist unbestritten das höchste Kompliment, das ein Wein bekommen kann. Es wird nicht leichtfertig vergeben und ist mit dem entsprechenden Prestige, den entsprechenden qualitativen Erwartungen und den entsprechenden Preisen verbunden. Die Etymologie ist nur zu gut bekannt: „Grand Cru“ bedeutet „großes Gewächs“, womit in erster Linie weniger die Kunst der Kellerei als vielmehr die Wichtigkeit des Terroirs, der Lage und eines sensiblen, kundigen Umgangs mit ihm gemeint ist, sowie die Fähigkeit des Winzers, in Dialog mit Reben, Boden, Wetter und Klima zu treten, ihre Sprache zu deuten und zu nutzen. Ein Grand Cru ist ein Luxusgut, das aus Liebe und Wissen geboren wird, Respekt und Ansehen genießt und sich nur der verschworenen Gemeinde echter Kenner und Liebhaber offenbart. In den letzten Jahren aber ist der Begriff aus dem bis dahin eher kleinen Rahmen seines Daseins entschlüpft und hat andere Gebiete erobert.
Anspruch auf das Exquisite – die Welt der Schokolade und des Kaffees
Seinen ersten Ausflug machte das Wort „Grand Cru“ in die Welt des Kakaos und der Schokolade(n). Die Absicht war hier unter anderem, eine neue Sicht des Produkts und ein Gespür für die Tatsache zu fördern, dass Qualität nicht nur in der Verarbeitung eine Rolle spielt, sondern der Geschmack auf anderen Ebenen hinterfragt werden sollte. In der Folge sollte der Trend vom Passivgenuss zu einem reflektierteren Umgang mit Provenienzen und Rohstoff führen. Neben dem Ansatz des ethischen Handels, der sich eher mit dem sozial-menschlichen Aspekt beschäftigt, und den ökologischen Gesichtspunkten gibt es nun eine andere Art der „Correctness“, die darauf abzielt, den Gaumen zu erziehen und aktivere, kundigere und somit respektvollere Annäherungen an die Vielseitigkeit von Schokolade zu unterstützen. Anbaugebiete und Sortenreinheit werden ausführlich vorgestellt und erklärt, der Kunde kann und soll lernen, welche Charakter-und Geschmackseigenschaften sie mitbringen, und so eine differenziertere, bewusstere, aber auch individuellere, persönlichere Form des Genusses erleben. Angeleitete Verkostungen haben die Weingüter verlassen und sind in die Welt der Schokolade eingezogen.„Weniger ist mehr“ ist dabei nur ein winziger Teil der Botschaft, die vom Image einer ungesunden Süßigkeit unter vielen zum Trend eines maßvollen und somit gesundheitlich vertretbaren, ja vernunftgesteuerten Konsums führen soll. Schokolade wird nicht zuletzt durch die Einteilung in Grands Crus vom gedankenlos verschlungenen Produkt der Überflussgesellschaft zu einer Köstlichkeit im Luxussegment, der mit Bedacht und Sachkenntnis begegnet wird. Qualität und eine fast meditative Haltung sollen eine neue, sinnlichere Dimension der Geschmackswahrnehmung eröffnen. Grands Crus-Schokoladen sind auch Interessengebiet und exklusives Hobby.
Einen ähnlichen Weg beschritt bald auch der Kaffee. Seine nicht allzu weit zurückliegende Verwandlung vom Alltags- zum Lifestyle- und Image-Getränk hatte ihn geradezu prädestiniert, sich in einem neuen Marktsegment als Produkt für Kenner, die das Außergewöhnliche suchen, zu positionieren. Auch hier spielen Provenienz, Lage, aber auch der Respekt vor der Natur, etwa in der Einhaltung der Reifezeiten der Bohnen, eine wesentliche Rolle. Sortenreinheit ist allerdings nicht immer relevant, es werden Blends mit hochwertiger Zusammensetzung und besonderen Röstungen auf diese Weise beworben.
Marketing, Zeitgeist oder soziales Phänomen? Ansichten zu Sprachdesign
Seit einigen Jahren springen andere auf den Grands Crus-Zug – mit mehr oder weniger überzeugenden Darstellungen: Käse, Bier, Gewürze oder Mineralwasser haben sich den Begriff mittlerweile zu eigen gemacht. Viele Stimmen bemängeln hierbei wiederum, dass diese Assoziation mit unzweideutigen Marketingabsichten letztlich eben nur eine künstliche Überhöhung sei und den Inhalt des Prädikats nur verwässern würde. Wird der Trend zum Grand Cru von zu vielen kulinarischen Gebieten übernommen, ist in der Tat zu befürchten, dass seine Relevanz abnimmt und vom Verbraucher zu Recht mit gesundem Misstrauen beäugt wird. Doch sprachlich geht es um mehr und noch sollte diese Entwicklung, soweit sie neben Wein auf Schokolade, Kaffee oder Käse begrenzt ist, nicht verteufelt werden: Sie ist auch Spiegel eines sehr zeitgenössischen Wunsches nach dem Besonderen, nach Luxus in den Dingen des Alltags, nach regionaler und langtradierter Qualität. Genussmittel werden nicht mehr nur als Lösung zum Frustabbau oder zur Sofortbefriedigung betrachtet, sondern als differenzierte, sinnliche Kostbarkeit, die es zu verstehen und zu schätzen zu wissen gilt. Zugleich verrät diese Tendenz allerdings auch die Sehnsucht nach sozialer Positionierung und Abgrenzung. Grands Crus schaffen in der Welt der Schokolade und des Kaffees eine Exklusivität, die dazu verhilft, Bildung und einen aufgeklärten Umgang mit den schönen Dingen des Lebens zu inszenieren. Mit anderen Worten: Sie werden zum Sinnbild von Lebensart.
Die neue Auslegung alter Begriffe ist mehr als Marketing oder snobistische Aneignung. Natürlich ist sie zum einen demonstrative Zurschaustellung, aber sie zeugt auch von dem Bedürfnis, das Besondere, das Schöne zu finden und hervorzuheben – im konkreten Fall der Grands Crus neue Inseln des Augenblicks und des Genusses zu entdecken.
Auch wenn die Gefahr eines Verblassens von Inhalten und Werten gegeben ist und sicherlich nicht unterschätzt werden darf, zeigt dies, dass die Erneuerung von Sprache nicht nur zu ihrem Nachteil geschehen und nicht nur geduldet werden muss und dass sie durchaus ästhetische Bereicherung bedeuten kann.
Aber vor allem geht es darum, Sprache aktiv zu gestalten, bewusst zu designen. In der Erweiterung und Neuinterpretation von „Grand Cru“ geschieht die Sprachentwicklung nicht durch Zufall oder durch einen zeitlich ausgedehnten Vorgang der Gewöhnung und Akzeptanz. Sie wird gesucht und gewollt.