top of page
AutorenbildMartina Schmid

Kulinarischer Patriotismus? Der „erste Kontakt“


Baklava mit Tee

Foto @wix.com / Baklava mit Tee


Was macht Identität, vornehmlich kulturelle Identität aus? Ist es die gemeinsame Geschichte aus Fakten, Königen, Kaisern und Kriegen? Sind es Landschaften und Topographie? Sind es Denkmäler? Sind es Bräuche? Sind es tradierte Praktiken wie Bauwesen, Handwerkstechniken, regionale Fertigkeiten? Ist es gar Religion? Für viele ist es sicherlich eine Mischung aus alledem, aber auch persönliche Erinnerungen, die für das typisch sind, was man als eigene Kultur auffasst, spielen eine Rolle. Landes- und regionale Küche sind hierbei zweifellos von zentraler Bedeutung, und Nationalstolz entsteht in erheblichem Maße aus Spezialitäten und traditionellen Gerichten. Doch was heißt das für Lebensart, Lifestyles und internationale Kommunikation heute?


Nationalstolz im 21. Jahrhundert: verpönt und überholt Sich heute mit einer bestimmten Kultur zu identifizieren, sich ihrem Lebensstil zugehörig zu fühlen, ist nicht mehr ohne Weiteres möglich … und nicht mehr unbedingt gern gesehen. Wir lieben es, zu glauben, dass unsere Welt kleiner ist als in allen Epochen zuvor – und bis zu einem gewissen Grad trifft es auch zu. Das Reisen ist nicht mehr Händlern und Politikern vorbehalten, wie dies über Jahrhunderte der Fall war, und ist – von den Jahren der Pandemie und den zunehmenden Klima- und Umweltschutz-Überlegungen abgesehen, die den Tourismus nachhaltig verändert haben und vielleicht noch tiefgreifender verändern werden – zum Allgemeingut geworden. Auch über den Import und Export von Waren denken wir nicht mehr nach, so selbstverständlich ist der internationale Warenhandel geworden. Was als Urlaubsziel oder Lebensmittel vor nicht allzu langer Zeit noch exotisch war, gehört heute zum normalen Angebot. Globalisierung und Nationalbewusstsein werden zudem medial und politisch ausdrücklich als unvereinbar gegeneinander ausgespielt, und stolz auf die eigene Heimat zu sein haftet, zumindest in Europa, eher ein seltsamer Nachgeschmack an. Die Utopie einer Welt ohne Grenzen wird zwar durch anhaltende und jüngste Konflikte sehr stark auf die Probe gestellt, wirtschaftlich werden in den letzten Jahren die Deindustrialisierung bzw. die Auslagerung von Produktionen aus der praktischen Sicht der Zuverlässigkeit der Lieferketten heraus kritischer beurteilt und aus ökologischen Gründen hinterfragt, doch ist der Gedanke einer gewissen kulturellen Austauschbarkeit allgegenwärtig. Kurz zusammengefasst: Hamburger in pappigen Brötchen gibt es überall, die üblichen Handelsmarken ebenfalls und die Innenstädte gleichen sich untereinander immer mehr.

Lokalpatriorismus: besser als sein Ruf? Tatsächlich sind Stolz und Identitätsgefühl wichtig und für die psychische Gesundheit unentbehrlich, das ist unbestritten. Das Bedürfnis, sich als Mitglied einer Gruppe zu zeigen und zu fühlen, wohnt dem Menschen als sozialem Wesen schon seit der Vorgeschichte inne. Dabei ist es nebensächlich, ob es sich um die Familie im erweiterten Sinn handelt, um einen festen und treuen Freundeskreis, um eine Fußballmannschaft, um den Fanklub eines Musikers, um eine verschworene Kollegengemeinschaft im Unternehmen oder um die Region und Kultur, in der wir aufgewachsen sind. Zugehörigkeit ist identitätsstiftend, sie sagt uns, wer wir sind. Doch Globalisierung und Lokalpatriotismus müssen keineswegs im Widerspruch zueinander stehen, sondern im Gegenteil, sie können sich gegenseitig bestärken. Gerade die Möglichkeit eines Vergleichs von Traditionen, Bräuchen, Mentalitäten eröffnet neue Perspektiven über die eigene Kultur und kann dazu beitragen, dass ortstypische Gepflogenheiten tiefgründiger geschätzt und gewürdigt oder Werte bewusster wahrgenommen werden. In diesem Wechselspiel zwischen Weltnähe und emotionaler Bindung zur Heimat nehmen die Kochkunst und ihre Zutaten einen besonderen Platz ein. Kulinarische Spezialitäten: identitätsstiftend und verbindend

Gebratene Fleischknödel

Foto: @wix.com / Gebratene Fleischknödel

Das Essen ist das Land Köstlichkeiten aus einem fernen Land oder schlicht einer bestimmten Region sind für Touristen nicht nur ein beliebtes Urlaubsmitbringsel. Sie sind Teil unserer Erinnerungen an einzigartige Ferienerlebnisse, sie verleihen einem Reiseziel in unserer Vorstellung nachhaltig ein Gesicht, sie prägen unser Bild von Ort und Menschen. Sushi gehört zu Tokio, Tapas zu Madrid, Moussaka zu Griechenland – und gern erzählen wir, dass sie nur dort so schmecken, wie sie schmecken sollen. Wie sehr das Klischee in unserem Kopf – das positive Vorurteil sozusagen – und die damit verbundene Erwartungshaltung, die persönliche Entspanntheit und das sich daraus natürlich ergebende prinzipielle allgemeine Wohlwollen allem gegenüber oder die Besonderheit einer Reisesituation für unser Geschmacksempfinden eine verklärende Rolle spielen, könnte hinterfragt werden, denn ein schlechtes Croissant ist selbst in Paris ein schlechtes Croissant – und ja: Es gibt sie dort auch in den unterschiedlichsten Qualitätsstufen – aber letztlich ist es ganz gleich. Was zählt, ist die Magie, das Glück des Augenblicks. Kulinarische Spezialitäten sind so oder so das, was wir nach Hause mitnehmen: ob als Geschenk für andere, als Schnappschuss für die Sozialen Netzwerke, als Rezept zum Nachkochen und zum Teilen unter Freunden, oder einfach als Bild in unserem Kopf und Erinnerung auf der Zunge. Sie sind die sinnliche Verkörperung dessen, was wir für immer mit diesem Land, dieser Region, dieser Stadt assoziieren werden.


Spezialitäten mit Stolz anbieten Ebenso werden im umgekehrten Weg charakteristische kulinarische Erzeugnisse gern als Visitenkarten eines Landes präsentiert. Unabhängig von Bildungsgrad und Kontinenten wird Kochkunst als Ausdruck des nationalen Wesens empfunden und dezidiert vermittelt – sei es als Geschenk für einen Gastgeber in einem fremden Land, sei es im Rahmen eines kulturellen oder schulischen Austauschs etwa im Zuge einer Essenseinladung, der Besichtigung eines entsprechenden handwerklichen Betriebs oder anlässlich internationaler Fachmessen. Interessanterweise werden Gerichte oder andere Produkte selbst dann als landestypisch betrachtet und vorgestellt, wenn sie in Wirklichkeit eher regional sind. Es entsteht auf diese Weise aus einer mitunter geographisch sehr begrenzten Ortsspezialität auf einmal ein Stück Nationalstolz, der Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt. So identifizieren sich alle Franzosen zum Beispiel mit Madeleines, Crêpes und Foie gras, die jedoch ursprünglich jeweils aus dem 6700 Einwohner kleinen Saint-Yrieix-la-Perche, der Bretagne und dem überschaubaren Departement Dordogne stammen. Der erste Kontakt: „Aber das ist doch nur wie …“ Kulinarisches Selbstwertgefühl kann allerdings auf eine harte Probe gestellt werden. Die Reaktion auf Spezialitäten anderer Länder kann hierbei oft als Messgrad für das nationale Bewusstsein überhaupt angesehen werden. Ist bekannt, dass Franzosen auf die Qualität ihrer Lebensmittel und auf die Erlesenheit und Raffiniertheit ihrer Speisen und Rezepte grundsätzlich sehr stolz sind und diesbezüglich wenig Widerspruch gelten lassen, so sind sie nicht die einzigen, die ihre typischen Gerichte und Erzeugnisse als einzigartig empfinden und kompromisslos verteidigen. Im deutschen Sprachraum etwa ist es für Ausländer recht schwierig, die Besonderheiten ihrer Landesküche zu vermitteln. Wer versucht, einem deutschen Freund voller Stolz Poffertjes, Crêpes, Pancakes, Blinis oder Dorayaki als typisch holländische, französische, amerikanische, russische oder japanische Spezialitäten nahezubringen, erfährt meistens einen bildlichen kräftigen Schlag in die Magengrube, wenn er oder sie zum ersten Mal mit der hierzu klassischen spontanen und durchaus aufrichtig etwas enttäuschten Reaktion konfrontiert wird: „Aber das ist doch nur wie (luftige/dünne/dicke/winzige/gefüllte) Pfannkuchen!“ Foie gras und Leberwurst zu unterscheiden fällt den meisten ebenso schwer, und in vielen Ländern werden Ravioli, Maultaschen, Pelmini, Manti und Pierogi munter in einen Topf geworfen – das Wortspiel sei an dieser Stelle erlaubt –, all dies seien schließlich „nur“ Teigtaschen mit Fleischfüllung.



Teigtaschen in einem grauen Teller

Foto: Luna Wang @unsplash.com

Teigtaschen

Foto: Jessica Lock @unsplash.com

Die vielfältigen Ursachen des kulinarischen Patriotismus Neben einem vielleicht unzureichend geschulten Gaumen sind gerade die Verkleinerung unserer Welt und die grenzenlose Öffnung des Angebots zu nennen. Die Globalisierung der Lebensmittelmärkte führt zu zunehmender Langeweile und Abgestumpftheit: Das Besondere, das Exotische, das Unbekannte und Überraschende gibt es nicht mehr, und das Einerlei wird so sehr erwartet, dass alles unreflektiert gleichgesetzt wird. Scheinabgeklärtheit entpuppt sich als Intoleranz, Ignoranz und mangelnde interkulturelle Kompetenz. Die Identität, die Eigenart und Unverwechselbarkeit der anderen Kultur wird schlichtweg übersehen oder kurzerhand geleugnet. Eine weitere Erklärung ist ein Nebenaspekt des kulinarischen Patriotismus: Es gelten geschmacklich nur die Werte und Vorstellungen des eigenen Landes, die als Maßstab und Grundbeispiel für alles andere angewendet werden. Nuancen werden als unwichtig oder lästig abgetan, nicht zuletzt deshalb, weil Spezialitäten das sind – sieht man von der Unterstützung etwa einer Fußball-Nationalmannschaft bei einem internationalen Turnier ab –, wodurch sich viele als einem Land zugehörig definieren. Kulinarischer Patriotismus ist Gewinn und Problem zugleich: Gewinn, weil er als identitäts- und identifikationsstiftend einen gesunden Gegenpol zur kulturellen Globalisierung bietet und zum Erhalt regionaler Werte, Traditionen und Vorstellungen beiträgt. Er kann auch Problem sein, wenn er dazu führt, kulturelle Unterschiede und Nuancen gering zu schätzen. Letztlich sind die Varianten international bekannter Gerichte und Spezialitäten nichts anderes als die jeweiligen Übersetzungen vieler, über die Jahrhunderte hinweg übermittelter und geteilter Rezepte, die nur dann uns allen gehören können, wenn wir ihren Ursprung und die Kulturen kennen, begreifen und als eigenständig respektieren, denen wir sie verdanken.

bottom of page