top of page
AutorenbildMartina Schmid

Weltreise auf der Käseplatte



Verschiedene Käsesorten mit roten Weintrauben

Es gibt viele Wege, Fernweh zu bekämpfen. Mag Reisen der naheliegendste von ihnen sein, so ist auch Genuss eine belohnende Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen und sich anderswohin zu träumen. Besonders leichtes Spiel haben Käseliebhaber: Eine Welt von unendlicher Vielfalt eröffnet sich ihnen, eine Messerspitze entfernt. Neben echten Denkmälern, deren Namen auf der Route nicht fehlen dürfen, sind einige unbekannte Kleinodien und Kuriositäten zu entdecken.

 


Die ganz großen Namen: Käsedenkmäler und Must-tastes


So wie Sightseeing-Orte, die sozusagen jedem Kind bekannt und als Klischees  fast etwas lästig oder sogar ein wenig peinlich sind – das Empire State Building, Versailles, Schloss Schönbrunn, der Dresdner Zwinger oder die Cheops-Pyramide – gibt es auch in der Welt des Käses Denkmäler, die man nicht auslassen kann, auch wenn man das Gefühl hat, dass sie ein „alter Hut“ sind und einen nicht mehr überraschen können. Zu diesen Köstlichkeiten mit Kultstatus gehören ohne Zweifel so würzige Namen wie Stilton, Roquefort, Gorgonzola, Camembert, Brie, Appenzeller, Gruyère, Tête de moine, Vacherin, Queso Manchego, Etorki, Parmesan, Feta oder Valençay. So lang wie die Liste unumgänglicher Sehenswürdigkeiten, so endlos ist auch diejenige der sogenannten berühmtesten Käsesorten. Und auch sie sind immer Zeugnis einer bestimmten Geschmacks- und Erlebniskultur, einer Lebensart, die oft regional beginnt und erst später zum Teil des Nationalstolzes wird.


Käseregionen und Käseterroir: Spezialitäten und AOC


Saftige Weiden, ertragreiche Viehrassen, Reifungsort und lang tradiertes Können sind das Geheimnis eines guten Käses. Hier spielt also das Terroir eine Rolle, und Käsemacher und Käsekenner wissen gleichermaßen, wie entscheidend dieses ist. In der Schweiz, in Frankreich und Italien haben Interessensverbände deshalb vor langer Zeit begonnen, die Bezeichnungen ihrer hochwertigsten und berühmtesten Produkte mit AOC- und AOP-Labeln schützen zu lassen. Dies ist ein Garant für Qualität und Herkunftstreue.Wie wichtig dies sein kann, zeigt sich am Beispiel der schwindelerregend breiten Palette der Blauschimmelkäse, die für Liebhaber immer einen besonderen Platz auf dem Teller haben. Frankreich verzeichnet über ein Dutzend unterschiedliche Übersetzungen einer solchen Rezeptur, von denen Roquefort, Fourme d’Ambert, Bleu d’Auvergne, Bleu de Bresse, Bleu des Causses, Bleu des Basques, Bleu de Gex, Fourme de Montbrison nur die bekannteren sind.

In Großbritannien rivalisieren Stilton, Dorset Blue Vinny, Cashel Blue, Stichelton, Lanark Blue, Norbury Blue, Buxton Blue und Shropshire Blue um die Gunst des Kunden. Zu erwähnen wären noch die spanischen Calabres, Picón Bejes-Tresviso und Queso de Valdeón, der bulgarische Cherni Vit mit seiner ungewöhnlichen grünen Farbe, der polnische Rokpol und noch viele, viele weitere Varianten auf allen Kontinenten.

Eine Reise durch die Welt der Blauschimmelkäse allein würde tatsächlich einmal um den Globus führen, von Skandinavien bis Griechenland, von Kanada bis Russland.

Laib- und Weichkäsesorten kämen dann hinzu – und es sind Abertausende. Insgesamt gibt es weltweit über 250 Sorten Blauschimmelkäse und jede hat ihren eigenen Charakter, ihre eigene Unverwechselbarkeit. Denn die Reifung von Schafsmilch in den Höhlen von Roquefort verleiht dem Produkt ein ganz anderes Aroma und eine andere Konsistenz als die Lagerung eines Kuhmilchprodukts in den Kellern der Abtei Saint-Benoît-du-Lac in Quebec oder eines Gorgonzola in der warmfeuchten Luft des Piemont.

Sie zu probieren bedeutet, in Dialog mit anderen Esskulturen und Lebensweisen, mit Menschen und ihrer Geschichte zu treten – und damit den Geschmack anderer Länder in die eigenen Empfindungen zu übersetzen.



Viele erlesene Käsesorten auf einem Holztablett



Kleine Perlen der Käsekunst – Raritäten, Geheimtipps und ein neues Vokabular


Doch vermögen die großen Sorten und die klangvollen Namen unsere Vorstellung und unsere Geschmacksnerven erfolgreich anzuregen, so bleibt dies nicht ohne Folgen. Trotz AOC und AOP wird die große Nachfrage, hier gibt es nichts zu beschönigen, mehrheitlich industriell bedient. Handwerkliches ist schwer zu finden, und nicht immer ist transparent, was handwerklich überhaupt wirklich bedeutet, gewährt das Gesetz in diesem Bereich schließlich erheblichen Spielraum. Selbst innerhalb der Europäischen Union kann das Verpacken oder Kleben eines Etiketts per Hand mancherorts als handwerklich gewertet werden, auch wenn der Käse selbst komplett maschinell hergestellt wird.

So sehnen sich immer mehr Käseliebhaber nach dem authentischen Geschmack des echten Terroirs und suchen ihn in Spezialitäten, die nicht notwendigerweise in jedem Supermarkt oder in jedem Käsefachgeschäft erhältlich sind, sondern sich den üblichen Vertriebswegen entziehen. Dies bedingt  auch die Entstehung einer neuen Käsesprache, denn diese ganz besonderen Käse sind mehrheitlich ganz und gar namenlos. „Fromages à la ferme“, also Käse vom Bauernhof, die nicht einmal in einem Hofladen im eigentlichen Sinn verkauft werden, sondern oft auf einem Tisch am Straßenrand oder in der hofeigenen Küche, bestenfalls auf dem wöchentlichen Bauernmarkt angeboten werden, erfreuen sich in Frankreich, nicht nur auf den heimischen Esstischen, sondern auch bei anspruchsvollen Käse-Gourmets einer wieder erblühten und steigenden Beliebtheit.

In Italien befeuern Restaurants im obersten Segment diese Tendenz und lassen sich von oft kleinsten örtlichen Produzenten beliefern, die den stabilen Bestellungen und wertschätzenden Preisen wiederum ihr Überleben verdanken.

In Deutschland, Österreich, der Schweiz und dem Norden Italiens sind „Bergkäse“ und „Landkäse“ mittlerweile zu einem Zauberwort für Produkte  geworden, deren Alleinstellungsmerkmal es ist, unbekannt zu sein. Interessenten fahren auf Empfehlung bis zur Alm, um sich ein Stückchen „Käse wie früher“ zu sichern, nehmen die naturgemäß kleinen Produktionsmengen in Kauf, tragen sich notfalls in Wartelisten ein und lassen sich gern zu Patenschaften für Kühe, Schafe und Ziegen überreden, die den kostbaren Rohstoff liefern.

Aber der Erfolg und die überwältigende Macht des unverfälschten Geschmacks sind wie so oft ein zweischneidiges Schwert. Dem Marketing ist diese Sehnsucht nicht verborgen geblieben, und so werden sogar auf TV-Verkaufssendern sogenannte handwerkliche Almkäse-Spezialitäten an den Kunden gebracht … tonnenweise, in billigem Plastik vakuumiert verpackt und zu aberwitzigen Preisen.


Von Exoten und Anfängern


Käse macht Freude und macht sich wiederum hiermit Freunde. In Gegenden der Welt, die sowohl von der Alten und der Neuen Welt weit entfernt sind und die aus geographischen und historischen Gründen keine lange Käsetradition kennen, beginnen junge Bauern, umzudenken und an Produkten zu arbeiten, die eigentlich nicht in ihrer Kultur zuhause sind. 


In Japan etwa sind es kleinste Bauernhöfe mit gerade mal einer Handvoll Ziegen oder Kühen, die mit viel 'Trial and Error', wenigen Mitteln, großem Aufwand und unvorstellbarer, unbeirrbarer Leidenschaft mitunter sehr erlesene und einfallsreich nuancierte Spezialitäten entwickeln. Diese werden meist an einen kleinen Kreis von edlen Restaurants in unmittelbarer Nähe verkauft – oft ist der Kunde so nah, dass der Vertrieb des in schlichtem Papier eingeschlagenen Käses zu Fuß mit einer einfachen, am Arm baumelnden Plastiktüte erfolgen kann. Mittlerweile bemühen sich auch Käsereien wie diejenige von Shibata Chiyo nicht nur um handwerklich perfekte Produkte, sondern auch um Geschmackserziehung und kulturelle Vermittlung.



Käselaibe auf Holzregal


Käse verbindet über Sprachräume und Kontinente hinweg und fördert den Dialog und das Kennenlernen


Eine Umrundung der Welt der Käse ist nicht nur vom heimischen Esszimmer aus möglich: Käsesommeliers helfen in Workshops, Gaumen und Fernweh zu stillen.

Wer allerdings Käse und Reisen wirklich in Einklang bringen will, kann dies tatsächlich tun: In vielen Genussregionen haben Produzenten und Tourismus-Marketing inzwischen zusammengefunden und führen Besucher über „Käsestraßen“, „percorsi del formaggio“ (auch „sentieri del formaggio“ oder „itinerario del formaggio“ genannt), „routes des fromages“  oder „cheese routes“, „cheese trails“ und „cheese crawls“ zu allen relevanten Orten. Italien verdient hierbei eine besondere Erwähnung. Käseverkostungen werden dort immer häufiger in ungewöhnlichen Rahmen veranstaltet: in Museen, mitten zwischen den Kunstwerken, in Palazzi, von klassischen Konzerten begleitet, oder in Skulpturenparks – ein rundum kulturelles Erlebnis.

bottom of page